Die Verräumlichung kultureller Identitäten

Dirk Snauwaert

Auch wenn es Naturelemente oder flüchtige Elemente wie Wasser, Luft oder Hitze sind, die Nevin Aladağ in ihren Arbeiten als Gegengewicht zu den medialen Stereotypen einer augenblicklich nur oberflächlich geführten Diskussion über 'kulturelle Identität' einsetzt, so weicht sie mit diesen elementaren und abstrahierten Zeichen nicht der Frage nach Identitätszuweisung aus. Sie integriert die Symbole fast unmerklich in die Bedeutungsstruktur und erläutert so das Vorhandensein und den Umgang mit Kulturtransfers. Aladağ arbeitet mit skulpturalen Interventionen, mit medialen Darstellungen und Low-Tech-Videodokumentationen. Deren Verhältnis liefert eine interessante Dialektik über den assoziativen Umgang mit Identifikationsmustern sowie der Verräumlichung von Symbolik und Handlungen. Sowohl die Installationen als auch die Projektionen entwickeln eine Perspektive, die vom Betrachter eher Handlungsfelder als bloßes Hinschauen einfordert. Mit den installativen Situationen wie auch den Sequenzen mit Laiendarstellern werden in der vorgefundenen Architektur – sei es eine Ausstellungssituation, eine Kunstinstitution oder ein mediales Format – eigene Räume konstruiert. In jedem dieser Kontexte werden neue Felder aufgebaut, meist mit flüchtigen Signalen und Impulsen. Ob es Dialogfetzen oder Choreografien der Hip Hopper oder die Wellen der 'plastischen' Eingriffe sind, ständig konkretisieren sich für kurze Momente neue Räume, in denen sich Bewegungen, Erzählungen oder Imaginäres entfalten können. Der temporäre Charakter dieser Räume zielt auf die Position der Akteure der zweiten und dritten Generation der Migranten. Dabei verzichtet Aladağ darauf, die mediale und gesellschaftliche Determinierung und die Verklausulierung von Stereotypen über das 'Eigene' und das 'Andere' als eindeutige darzustellen. Ihr Projekt ist nicht dekonstruierend, weil es in der Herstellung von Orten kultureller Praxis utopische Intentionen enthält. Dies charakterisiert ihre Interventionen in Institutionen. Stärker noch sichtbar wird dieser Aspekt in ihrer Aneignung, Belebung und Umdeutung der Resträume der Popindustrie, der Praxis des Breakdance und der Hip-Hop-Rituale, die sie im genretypischen Fernsehclip-Stil und in Fotoreihen montiert.


Aladağs künstlerische Praxis argumentiert nicht aus der Position des Verlusts der kulturellen Identität in der Migration und den Diaspora. Vielmehr bezieht sie aus dem Aufeinandertreffen dieser geografischen und kulturellen Räume ihre Inhalte und Zusammenhänge. In den Subkulturen populärkultureller 'Genres' der Vorstädte und Minderheiten entdeckt sie neue Partizipationsformen. Sie verbinden den Traditionsverlust mit selbstbewussten Entwürfen der eigenen Identität, die die 'Lebensstile der Minderheiten' als noch nicht wahrgenommene Möglichkeiten, nicht als bloße Konditionierung entdecken wollen. Dem wohnt natürlich eine Falle inne, weil die Vorgehensweise dem aktuellen sozialpolitischen Erwartungsmuster der Integration perfekt zu entsprechen scheint: dem perfekt assimilierten Individuum. Von Künstlern wird erwartet, dass sie entweder Zeugnisse einer schmerzvollen Anpassung verarbeiten oder aber das bequeme Bild einer einheitlichen internationalen Ästhetik vermitteln. Dennoch gibt es zwischen dem Durchexerzieren von Traumata einerseits und den lückenlosen Abstrahierungen andererseits die Möglichkeit, als Alternative die Differenzen und Widersprüche in diesem Kanon aufzuzeigen – das heißt, den Entwurf neuer Räume in diesem Prozess der Aneignung und Dechiffrierung aufzuzeigen. So lesen sich die Film- und Fotoprojekte Nevin Aladağs, die sich mit der Ausdifferenzierung des in den vergangenen Jahrzehnten international verbreiteten und vermarkteten 'Stil' des Hip Hop beschäftigen, wie Szenarien einer kollektiven Dynamik. Weil die 'Pose' als Konvention kenntlich gemacht wird, wird deutlich, dass sich die Kommunikation als Zeichensprache nur über die nahezu rituellen Handlungen des Tanzens entwickelt. Über die individuelle Wiederholung und die Verkörperung dieser akrobatischen Stilfiguren organisiert sich ein sozialer Körper, der Raum für individuelle Selbsterfahrung fordert. Dabei entsteht der Raum weniger durch die Repräsentation als vielmehr durch die Gesten, die Kleidung oder die Sprache. Die formale Präsentation und der Schnitt betonen diese 'Verräumlichung'. Die Foto-Pinwände in einem Hotelzimmer erwecken den Eindruck, als handele es sich um eine Mischung zwischen einem Fan-Zimmer und der Backstage-Lounge einer B-Boys-Group auf Tournee. Die türkische Familie, die sich als Breakdancer für einen Fernsehauftritt vorstellt, entspricht nicht dem jugendlichen rebellischen Profil, sondern verdeutlicht, dass sie sich als kleine Gruppe innerhalb einer choreografischen Weltkultur versteht. Die mehrteilige Projektion Match und die Fotoserie Der Mann, der über seinen Schatten springen wollte arbeiten mit den Mitteln der Dramatisierung, Zeitsequenz und Nebeneinanderstellung. Hier treffen optische und inhaltliche Umsetzung zusammen. Beide Milieustudien zeigen zeitversetzt auf, wie es zu den präzisen Positionierungen und Besetzungen kommt, zu der Art und Weise, wie im Hip-Hop-Raum gestaltet wird, wie dort die Dimensionen und Regeln sind. Auch wenn hier die 'Tanzflächen' mit einen Lichtkreis und einem Schachbrettboden genau definiert sind, so sind es doch die 'Figuren', die akrobatischen Solotänze, die in einer choreografischen Stilistik gipfeln, die zeitlich andere Grenzen als die des physischen Ortes definieren. Wie diese B-Boys, Breakdancer und Hip Hopper einen stark kommerzialisierten, kodierten Raum zurückerobern, so entfalten auch die Rauminstallationen von Nevin Aladağ ihre Strategien.


Diversen kulturellen Räumen und Verortungsproblematiken der Skulptur geht Nevin Aladağ in deren semantischen und imaginären Definitionen nach. Metaphern und Psychotropen des Ortswechsels, die Heterotopie der vagen, instabilen und wenig definierten Raumidentitäten überlagern die 'technischen' Skulpturbegriffe wie Platz, Positionierung, Raum- und Volumenkonstruktion. Durch ortsspezifische Arbeiten in vorgefundenen Architekturen im institutionellen Rahmen punktuiert oder tangiert Aladağ diesen Kontext, ohne jedoch strukturelle oder substantielle Eingriffe durchzuführen. So hat sie sich bei den Installationen im FRI-ART Fribourg oder in der Villa Arson Nizza einer gängigen Interventionspraxis mittels der Montage von Raumeffekten bedient, wie sie aus Projekten über Kunst, Design und Architektur bekannt sind: Eine Betonung des cool-minimalistischen Stils in einer leeren, desolaten, spät-modernen Urbanität, deren Austauschbarkeit und Wiederholbarkeit dadurch deutlich wird. Aladağ setzt nicht so sehr auf den Kontext oder andere Formen des Ortsspezifischen, sondern auf Collagen abstrahierter Phänomene. Diese 'Markierungen' sind häufig medialer Art: 'Events' werden in einen normalen Ablauf eingefügt. Diese 'Gesten' zielen darauf, die Intensität der Sinne anzusprechen, und zwar nicht ausschließlich die des Sehens, sondern die des ganzen Wahrnehmungsspektrums. Aladağs 'Sensationen' lassen sich von sehr intensiven, sogar exaltiert zu nennenden Signalen auslösen. Die Hitzewelle oder der Peitschenschlag, das 'Plätschern' von Wasser im Schwimmbad, Kinderstimmen oder 'wehende Gardinen', jeder einzelne Effekt produziert das Bild einer Pathosformel, Indiz eines leidenschaftlichen Aneignens, Besetzens oder Bewohnens dieses Raumes. Feste Architekturen werden symbolisch mit Affekten aufgeweicht und emotional-biografisch umgedeutet. Nevin Aladağ benutzt bei den 'Events' häufig Bilder, die mit türkischer oder –präziser: – mit einer 'orientalischen' Symbolik verbunden werden. Die Tauben oder der Brunnen etwa könnten aus 'Tausendundeiner Nacht' stammen, die Tanzenden Derwische hingegen definieren das Orient-Klischee auf burleske Art wieder um.


Die mysteriösen Bewegungen der wehenden Gardinen erweisen sich als eine Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, stellen aber gleichzeitig die Frage, ob es nicht doch um die Dekonstruktion von Erwartungsmustern und Identitätszuweisungen geht. Die Irreführung des Betrachters, das Arbeiten mit Umkehrungen und Spiegelungen, mit Illusionen und dem 'filmischen' Schildern von Genrebildern in einigen Arbeiten zeigen auch ihre Vorliebe für Vexierbilder und Bedeutungen, die ins Gegenteil kippen können. Verschiedene der Arbeiten bedienen sich der Technik der surrealistischen Montage widersprüchlicher Bedeutungen. Dieses Ambiguität des doppelten Symbolcharakters trägt das Merkmal des nicht Greifbaren, der Uneindeutigkeit. So ist bei der mehrmals verwendeten 'summenden' Kinder- oder Frauenstimmen nicht klar, ob es sich um Äußerungen der Trauer und Isolation oder des Wohlbefindens handelt. Der Betrachter verliert bei den Präsentationen buchstäblich das Gleichgewicht, entweder physisch oder virtuell. Die Hitzewelle der Wärmeschleuse am Eingang des Ausstellungsraumes, die mit dem lauten Knall einer Peitsche kombiniert wird, verwandelt das angenehme Streicheln mit Warmluft in die schneidende Gewalt des Peitschenknalls. Kontrastreicher lässt sich das 'Bombardieren der Sinne' wohl nicht darstellen. Dass es sich dabei um zwei Markierungen eines Territoriums handelt - Wärmeschleusen markieren meist Eingänge zu halböffentlichen Gebäuden - lenkt den Blick auf die Frage nach der Okkupation dieses kulturellen Raumes und der Funktion einer Ausstellung. Ebenso wird der Springbrunnen der Rathausgalerie von einer typischen ortsspezifischen Dekoration in die Allgemeinheit eines Freizeitbades umgedeutet. So wird dieses Emblem an viele andere Orte versetzbar. Der Spaß am Tummeln im Schwimmbad entspricht symbolisch dem Fliegen und Schweben der Tauben, nur schiebt sich hier eine konkrete körperliche Erfahrung vor den Verweischarakter der symbolischen Referenz. Der Nicht-Raum, für den das allerorten vorhandene Schwimmbad steht, deutet auch das Symbol des 'typischen' Brunnens um, der zwar an einem spezifischen, letztlich aber austauschbaren Ort nur den Platzhalter für eine begrenzt-typische Identität spielt. Mit Spaltungen und Perspektivwechseln konstruiert Nevin Aladağ so Installationen, die Räume mit integrativen Qualitäten und Möglichkeiten eröffnen. Auch wenn die Melancholie der Brieftauben - stets darauf dressiert, nach Hause zu fliegen – das Konzept des kontroversen Themas 'Heimat' auf lapidar-poetische Art formuliert, so wird doch auch über die Distanzen, die die Tauben zurücklegen müssen, deutlich gemacht, dass die emotionalen und biografischen Komponenten eines jeden Ortswechsels nicht ausgeblendet werden können. Die idealisierte und festgeschriebene Identität der Symbole wird in der Suggestion des Fliegens und der Verbindung von zwei Räumen aufgelöst.


Dirk Snauwaert