Nevin Aladağ: Traces

Ruth Kissling

„Nessuno sa meglio di te, saggio Kublai, che non si deve mai confondere la città col discorso che la descrive.“



„Niemand weiß besser als du, weiser Kublai, dass man die Stadt niemals verwechseln soll mit dem, was über sie geschrieben wird.“


Italo Calvino, Le città invisibili (Die unsichtbaren Städte)



Städte werden besungen und beschrieben. Sie sind Gegenstand von Malerei, Film, Literatur. Sie werden erinnert und fantasiert. Sie werden dokumentiert, kartografiert, in Statistiken untersucht. Städte sind Orte sozialer, politischer und ökonomischer Interaktion. Es sind architektonische Akkumulationen und kulturelle Zentren. Es sind Orte der Kulturraumverdichtung und die viel zitierten Schmelztiegel von Kulturen. In ihnen leben Menschen unterschiedlicher Schichten und Herkunft. Im Jahr 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben.


Nevin Aladağs neue Videoarbeit Traces ist das Porträt einer Stadt. Nicht mit Bildern prägnanter urbaner Wahrzeichen, landschaftlicher Besonderheit oder der Abbildung ihres Alltagstreibens, nicht durch die Wiedergabe ihrer Erzählungen, Berichte und Legenden. Aladağ zeichnet das Porträt der Stadt mit Musik, indem sie die Stadt Musik machen lässt.


In Traces übernehmen Musikinstrumente die Rolle der Protagonisten. Die Bandbreite der Instrumente reicht vom einfachen Tamburin bis zur Konzertgeige, aber auch Panflöte, Windspiel und Mundharmonika sind Teil der ungewöhnlichen Besetzung. Aladağ hängt die Instrumente an Bäume, montiert sie auf Spielplatzkarusselle und Straßenlaternen oder lässt sie über Treppen und Straßen rollen. Außerhalb der Kamera in Bewegung gesetzt, spielen sich die Instrumente in den Aufnahmen selbst.


Im Hintergrund sind Straßen, Häuser, Stadtansichten zu sehen. Die Mischung von repräsentativen historischen Gebäuden und funktionaler Shoppingarchitektur, von sorgfältig angelegten Parklandschaften und Spielplätzen mit unterschiedlichen pädagogischen Ausrichtungen, von mit Betonplatten gepflasterten Fußgängerzonen und glasüberdachten Bushaltestellen vermittelt das Bild einer westdeutschen Großstadt. Der Ortskundige erkennt darin schnell Stuttgart.


Auf drei Screens in einem Triptychon angeordnet, zeigt Traces mal drei unterschiedliche Instrumente, mal verschiedene Perspektiven desselben Instruments. Die Kombination von Ort und Instrument bleibt immer gleich, denn die Künstlerin hat die Orte in der Stadt nach ihrer „Bespielbarkeit“ ausgewählt, „ob und wie sie ein bestimmtes Instrument spielen können“[1]. Den Auftakt bilden ein Akkordeon, eine Rahmentrommel und ein Gong. An einem wippenden Schaukelpferd befestigt, streckt und schiebt sich das Akkordeon zusammen und seufzt im Rhythmus des Wippens; die Trommel, gefüllt mit kleinen Metallkugeln, wird über gepflasterten Boden gezogen und gibt bei jeder Unebenheit ein ratterndes Geräusch von sich; der Gong hängt hoch in einem Baum und wird mit Kastanien beworfen zum Schwingen gebracht. So nebeneinandergestellt, lesen sich die drei Screens als drei Stimmen eines Musikstückes, das in wechselnder Besetzung gespielt wird. Das Stück erreicht seinen Höhepunkt, wenn auf allen drei Screens Aufnahmen einer Violine zu sehen sind, die sich an einem bunten Metallkarussell dreht und aus unterschiedlichen Perspektiven gefilmt wird.


Wie musikalische Phrasen folgen die Bilder der unterschiedlichen Instrumente aufeinander, wiederholen sich und greifen ineinander über. Die anfängliche Kakofonie löst sich in einer klaren Struktur auf, die erkennen lässt, wie eng Bilder und Töne miteinander verknüpft sind. Mal bestimmt die musikalische Komposition den Rhythmus und die Abfolge der Bilder, mal leiten motivische Verknüpfungen wie die sich drehende Kreisform, die sich in Gong, Ballon und Karussell wiederholt, von Bild zu Bild. Traces ist eine polyfone Komposition aus Bildern und Tönen, bei der visuelles und akustisches Erleben eine Einheit bilden.


Die „Urform“ des Stadtporträts, die Vedute, zielt darauf ab, möglichst wiedererkennbare Ansichten von Städten zu zeigen. So soll sie über das Bild hinaus als Dokument wirken, das topografische Genauigkeit mit momenthafter, authentischer Impression vereint. Canalettos Vedute des Campo Santi Giovanni e Paolo von 1726 [2] in Venedig zeigt den Platz vor der namensgebenden Kirche, auf dem Menschen alltägliche Tätigkeiten verrichten. Der Eindruck ist so real, dass man meint, Gesprächsfetzen und das Plätschern des Wassers zu hören, die Meeresluft zu riechen und die Wärme der Sonne zu spüren. Die Schatten der Gebäude lassen sogar auf einen bestimmten Sonnenstand, und damit auf Uhr- und Jahreszeit, schließen.


Aladağ verschiebt den Akzent des visuellen Stadtporträts, das einen spezifischen realen Ort wiedererkennbar abbildet, auf die Dokumentation von Merkmalen der Stadt, die im Stadtbild nicht unmittelbar ersichtlich sind. Sie will die Spuren dieser Merkmale, Traces, zum Klingen bringen und damit hörbar machen und nutzt dafür ein ungewöhnliches, experimentelles Vorgehen.


Die Instrumente erzeugen Töne durch die Beschaffenheit der Orte, indem die Künstlerin sie der Schwerkraft und anderen physikalischen Gesetzen aussetzt. Die Beschaffenheit meint die physische Gestalt – unebene Betonplatten, metallene Treppenstufen, aber auch Elemente der Infrastruktur des öffentlichen Raumes wie Straßenlaternen. Die Töne, die die Orte so erzeugen, sind ganz anders als die Klangqualitäten und das Tonspektrum, welche man von den Instrumenten gewohnt ist und erwartet. Es hört sich an, als würde jemand das erste Mal in eine Flöte pusten oder den Bogen über Violinensaiten ziehen. In Traces sind die Instrumente darauf beschränkt, in ihrer rudimentärsten Form zu klingen, und ihr eigentliches Potenzial, Musik zu produzieren, tritt in den Hintergrund. Die Künstlerin greift hier eine Vorgehensweise aus einer früheren Arbeit auf, City Language I von 2009, ein musikalisches Porträt Istanbuls. Auch in dieser frühen Arbeit spielen Instrumente die Stadt.


Die Künstlerin hat die Bespielbarkeit der Orte durch Tests erprobt und so die Kombination von Ort und Instrument als (experimentellen) Kompositions- und Spielmodus festgelegt. Die Umwelt hat damit einen entscheidenden Anteil an der Erzeugung der Klänge, der Zufall bleibt jedoch ein ausschlaggebendes Element. Für John Cage ist experimentelle Musik eine „kompositorische Aktion, deren Ergebnis unbekannt ist“[3]. Die experimentelle Aktion findet auch bei Aladağ innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen statt: Wie Cage zitiert sie strukturelle Elemente aus dem Apparatus der Musik. Hier ist das die Wahl der Instrumente (wenn auch in unkonventioneller Zusammenstellung) und die Struktur als Stück mit drei Stimmen. Die klanglichen Ergebnisse der kompositorischen Aktion werden durch die lineare mehrstimmige Struktur eines Stückes in eine Ordnung gebracht.


Die Umwelt, die hier klingt, ist der öffentliche städtische Raum Stuttgarts, der als Partitur fungiert. Die Umwelt, die hier klingt, ist der öffentliche Raum Stuttgarts, der wie eine Partitur funktioniert. Die Instrumente bewegen sich in der Partitur und bringen durch die Bewegung ihre Klänge hervor. Zur Orientierung für Bewegung im Raum dienen üblicherweise Landkarten. Eine Partitur und eine Landkarte ähneln sich darin, dass sie die Realität in ein abstraktes Zeichensystem übertragen, das die vorhandenen Phänomene vereinfacht und lesbar macht.[4] Die Partitur wird zu einer Art Landkarte einer Landschaft von Klängen, die sich über die eigentliche Stadtlandschaft legt.


Traces ist eine Art Klanglandschaft, eine Soundscape. Soundscapes als musikalische Gattung definieren sich als Zusammenstellung von Geräuschen und Klängen, die in einem und durch einen Raum produziert werden. Zu den Geräuschen kann jede Art von akustischer Erscheinung zählen, von Wasserrauschen zu Handyklingeln, von Verkehrslärm zu Gesprächsfetzen vorbeigehender Passanten. Als Soundscapes bezeichnet man sowohl Werke, die reine Field Recordings sind, als auch durchkomponierte Werke, deren Material aus Field Recordings stammt und bearbeitet wurde.[5]


Traces geht über diese Definition einer dokumentarischen Klanglandschaft und der darin intendierten Abbildung von Wirklichkeit hinaus. Die Alltagsgeräusche sind ausgeblendet und nur die von den Instrumenten erzeugten Klänge zu hören. Das Konkrete, das, was die Orte physisch ausmacht, ist durch die Instrumente in abstrakte Musik transformiert.


Traces schließt an eine Entwicklung der Musik an, in der – gegenläufig zur absoluten Musik – das Verhältnis von Wirklichkeit und Musik ein Thema und Gestaltungsgrundlage ist. Als ein Paradebeispiel der illustrativen, wirklichkeitsabbildenden Tonmalerei des 19. Jahrhunderts gilt der Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky. Tonmalerei ebenso wie Programmmusik interpretieren außermusikalische Motive und Themen „in Tönen malend“ und machen sich dabei das Phänomen der Synästhesie zunutze. Mussorgsky vertonte 1874 die Bilder einer Ausstellung, eine Reihe von Aquarellen und Zeichnungen seines im Vorjahr verstorbenen Freundes Viktor Hartmann, die in einer Gedächtnisausstellung anlässlich seines Todes in St. Petersburg ausgestellt waren. Unter den Motiven waren Veduten wie Les Tuileries, die Hartmann während seiner Reisen in Europa gemalt hatte. Mussorgskys Les Tuileries. Dispute d’enfants après jeux beschreibt musikalisch eine Nachmittagsszene im ehemaligen Schlosspark von Paris. Man hört, wie sich Kinder nach dem Spielen streiten und von ihren Gouvernanten ermahnt werden.


Ähnlich wie in der Malerei des Impressionismus wird dreißig Jahre später der emphatische, subjektive Eindruck auch in der Musik zum Motiv. Die Besucher der Uraufführung von Claude Debussys La Mer 1905 waren enttäuscht: Sie hatten erwartet, die Brandung des Meeres und das Rauschen des Windes zu hören. Stattdessen hörten sie eine musikalische Komposition voller Stimmungseindrücke, zu der der Komponist seine Erinnerung an eine Naturlandschaft verarbeitet hatte, die sich weit von einer realistischen Schilderung entfernt.


1913 wendete sich der futuristische Maler Luigi Russolo gegen interpretierende Tonmalerei, Programmmusik und impressionistische Wiedergabe der Natur. Sein Anliegen war eine direkte und objektive Abbildung der modernen Gegenwart in Klängen, die den Geräuschen seiner Umgebung entsprachen. Dafür baute er eigene Instrumente aus Holzkisten, Drähten und Metallstücken, die er „Intrarumori“, „Geräuschtöner“, nannte. Seine erste Komposition, Veglio di una città von 1913, die auf diesen Instrumenten gespielt wurde, schildert das Erwachen einer modernen, industrialisierten Stadt.[6] Russolos Geräuschkompositionen waren eine Inspirationsquelle für weitere Entwicklungen der Musik des 20. Jahrhunderts: Die ab 1947 so benannte Musique concrète nutzte Tonbandaufnahmen von Geräuschen als Teil des musikalischen Materials. Die Aufnahmebänder bedingten die Art des Kompositionsprozesses und Tonbänder wurden durch Schnitt, Veränderung der Geschwindigkeit und Tapeloops elektronisch bearbeitet und so verfremdet.[7] Das Kompositionsverfahren dieser Musikrichtung ähnelt quasifilmischen Montagetechniken.


In Traces werden nicht die eigentlichen Tonaufnahmen geschnitten, sondern das filmische Bildmaterial. Dieses bildet eine untrennbare Einheit mit dem Ton. Bild und Ton bestimmen beide den Schnitt. Traces ist „optische Musik“[8]. Als optische Musik bezeichnet Béla Balázs in einer Rezension Walther Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt von 1927. Ruttmanns Porträt der Stadt Berlin ist einer der ersten sinfonischen Filme, bei dem Bild und Ton auf verschiedenen Ebenen eng ineinandergreifen. Die Filmmusik von Edmund Meisel entstand parallel zum Schnitt des Filmes und nicht erst nach Abschluss. Rhythmus, Instrumentenklang, Bild und Schnitt nehmen aufeinander Bezug. Ruttmann porträtiert Berlin in einer Form, die die Dynamik der zeitgenössischen Großstadt widerspiegelt. Die dokumentarischen Bilder zeigen die Diversität des Großstadtlebens und werden durch die musikalische Struktur einer Sinfonie geordnet. Der Schnitt des Filmes folgt den Tempi des städtischen Tagesablaufs: „Von einem Andante am Morgen geht es über ein Allegro con fuoco des Verkehrs zu einem Adagio und einem Allegretto des Spiels und einem Finale.“[9] Michel Gondrys Musikvideo für Star Guitar von den Chemical Brothers ist im Gegensatz zu Berlin. Sinfonie der Großstadt zwar auf den abgeschlossenen Track hin entstanden, beschränkt sich aber ebenfalls nicht auf eine reine Illustration. Das Bildmaterial reagiert direkt auf die Musik: Im Rhythmus der Musik sieht man eine scheinbar zusammenhängende Landschaft aus einem Zugfenster heraus vorbeiziehen. Das Video nahm Gondry auf der Zugstrecke zwischen Nîmes und Valence in Frankreich auf, die er zehn Mal während eines Tages abfuhr, um die Landschaft in unterschiedlichen Stufen der Lichtintensität zu filmen. Im Video setzt er den linearen Verlauf der Zugfahrt mit dem linearen Verlauf der Musik gleich, bricht die Kontinuität des filmischen Bildes jedoch durch Loops von Landschaftsansichten, die dem Rhythmus der Musik entsprechen. Dadurch werden bestimmte musikalische Motive durch bestimmte landschaftliche Ansichten bildlich repräsentiert, wie beispielsweise die Bassdrum durch einen Signalpfosten. In dem vorangegangenen Video für Daft Punk Around the World verbindet Gondry Ton und Bild zu fixen Einheiten, jedes musikalische Motiv ist durch einen Tänzer repräsentiert.[10] In Traces bilden Musik und Bild in ähnlicher Weise fixe bildliche Einheiten, die durch die Identität von Instrumenten und Orten vorgegeben ist.


Die Instrumente weisen über die bildmusikalische Komposition hinaus. Aladağ macht sie zu Platzhaltern für die Bevölkerung Stuttgarts. Mit der breit gefächerten Auswahl der Instrumente – von denen einige bei Hohner nahe Stuttgart produziert wurden – bezieht sie sich auf die heterogene Bevölkerung Stuttgarts, auf die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten wie auch auf die Stadt als Migrationsort für Menschen verschiedener Herkunft.[11]


Die meisten der eingesetzten Instrumente wurden ursprünglich in traditionellen Volksmusiken verwendet, bevor sie Eingang in die Kunstmusik fanden. Neben Akkordeon, Trommel und Gong erklingen in Traces Blockflöte, Mundharmonika, Triangel, Trompete, Violine, Panflöte und Schellenkranz – eine Auswahl an Instrumenten, die in dieser Zusammenstellung eine sehr ungewöhnliche Bandbesetzung ergeben würde, die aber in einer Großstadt wie Stuttgart in unterschiedlichen Kontexten gespielt werden, vom Sinfonieorchester bis zu Combos südamerikanischer Straßenmusiker.


Traces geht eine Arbeit von 2013 voraus, die dieselbe formale Struktur aufweist. Session porträtiert die Stadt Sharjah in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auch hier benutzt Aladağ Instrumente, mit denen vor Ort musiziert wird, sie lässt sie von der Stadt spielen und ordnet sie in einer dreistimmigen Bild-Musik-Komposition. Der Titel Session steht für das temporäre Zusammenspiel der gewählten Instrumente im Video. Als Session wird im Kontext von Musik das spontane und häufig improvisierende Zusammenspiel von Künstlern bezeichnet, die üblicherweise nicht in einer festen Formation zusammenspielen. Aladağ zeigt in beiden Arbeiten Instrumente als Migrationsobjekte, als Gegenstände, die ihre Herkunftsgeschichte und die Zuschreibungen zu bestimmten kulturellen Traditionen in sich tragen. Die Geschichte der Instrumente bewegt sich zwischen Orten und Kulturen, sie erfahren Änderungen in Bau, Spielweise und Funktion. In ihnen spiegelt sich, dass Musik immer eine Geschichte von Einflüssen und eine permeable Kulturform ist, die sich stets im Wandel befindet. Musik kann wie in den Volksmusiken durch Tradition identitätsstiftend sein, aber auch als Mittel der eigenen Identitätskonstruktion dienen, wenn unterschiedliche musikalische Traditionen verfügbar sind. Aladağ interessiert sich mit einem kulturanthropologischen Ansatz für die Rolle, die Musik in der Kultur einer Gruppe einnimmt und wie sich diese Rolle vor dem Hintergrund von Migration wandelt. Ihr Blick richtet sich auf Gebrauch und Funktionen von Musik ebenso wie auf Verhaltensweisen der musizierenden und Musik hörenden Menschen.[12] In Traces sind die Instrumente Vehikel, die diese Bedeutung transportieren. Sie tragen den Wandel in sich und zeichnen ihn in der Bewegung durch die Stadt nach. Die einfache Klangerzeugung verweist zum einen auf die Ursprungsformen der Instrumente, so etwa bei der Violine, die auf simpel konstruierte Fideln zurückgeht, und damit auf die Zuschreibungen zu traditionellen Regionalkulturen. Zum anderen stehen diese neuen Klänge für die „anderen“ Geschichten, die in der Stadt der Gegenwart zusammentreffen.


Musik ist Teil des kulturellen Lebens einer Stadt, im Privaten wie im Öffentlichen. Sie prägt die individuelle urbane Erfahrung einer Stadt ebenso wie die offizielle Identität, die die Stadt ausmacht. Der Ort, an dem dies besonders deutlich wird, ist der öffentliche Raum, der allen zugänglich ist.
 Im öffentlichen Raum überlagern sich verschiedene Räume, Zeiten und Beziehungsgeflechte – Geschichte und Gegenwart, soziale Verhältnisse, divergierende Interessen und Kulturen. Diese Überlagerung ist nicht statisch, sondern dynamisch und immer im Wandel.[13] In Stuttgart wirkt noch immer die in den 1960er-Jahren virulente Idee der autogerechten Metropole nach und große Autostraßen zerschneiden die Stadt in kleine Inseln. Als urbanistischer Gegenentwurf wurden diese Inseln in den folgenden Jahrzehnten stärker auf die Bedürfnisse der Bevölkerung hin konzipiert. Es gibt viele Grünflächen, Fußgängerzonen, Spielplätze, die den öffentlichen Raum attraktiver machen. Es handelt sich um Orte der sozialen Interaktion, an denen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aufeinander treffen. Aladağ nutzt diese Orte, um sie von den Instrumenten bespielen zu lassen.


Traces porträtiert so die Stadt als den Ort ihrer Bevölkerung und als Überlagerung simultaner und heterogener kultureller Traditionen. Aladağs Stadtporträt bildet als komponierte Stadtwahrnehmung aus Bild und Ton ein neues Zusammenspiel ab, das die Spuren dieser Überlagerungen nachzeichnet.


Ruth Kissling, 2015

(Lektorat: Christiane Weidemann)



[1] Gespräch mit der Künstlerin, Berlin, 16.03.2015.


[2] Giovanni Antonio Canal (Canaletto), Campo Santi Paolo e Giovanni, Öl auf Leinwand, 1726, Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli, Turin.


[3] Christoph von Blumröder, „Experiment, experimentelle Musik“, in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart 1995, S. 132.


[4] Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hrsg.), Partituren der Städte. Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck, Bielefeld 2014, S. 10.


[5] http://www.albany.edu/music/426readings/gluck_soundscape_050513.pdf. 30.03.2015.


[6] Uwe Schneede, Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhunderts: von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001, S. 70.


[7] Ulrich Michels, dtv-Atlas Musik, Bd. 2, München 2011, S. 514.


[8] Thomas Koebner (Hrsg.), Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, Bd. 1, 1913–1946, 4. Aufl., Stuttgart 2002, S. 161–164.


[9] Ders., ebd.


[10] Booklet Directors Label DVD Series: Michel Gondry, Sleeping Train Productions, 2003.


[11] http://www.zeit.de/2012/47/Stuttgart-Auslaender-Integration. 31.03.2015. Migranten werden Schawben. In Stuttgart leben mehr Menschen mit Migrationshintergrund als in anderen deutschen Großstädten - und hier klappt die Integration hervorragend. Warum?


[12] Helmut Brenner, „Heimatklänge. Sound als identitätsstiftender Faktor aus ethnomusikologischer Sicht“, in: Wolf Gerhard Schmidt u. a. (Hrsg.), Klang – Ton – Musik. Theorien und Modelle (national)kultureller Identitätsstiftung, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 13, 2014. S. 57f.
13 Hartmut Häußermann, Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M., 2004.