Wellenbrecher

Lisa Maria Weber, Leonie Böhmer

Auf dem Gelände des Hochwasserrückhaltebeckens zeichnet die Künstlerin Nevin Aladağ metaphorisch den Abdruck der Arche Noah nach. Der biblischen Geschichte nach strandete das Schiff nach der Sintflut auf dem Berg Ararat in der Türkei. Seine vermeintlichen archäologischen Spuren wurden dort in den 1960er-Jahren von einem Piloten entdeckt. Für die monumentale und mehrteilige Skulptur setzt die Künstlerin 60 über zwei Meter große Wellenbrecher in Form von Beton-Tetrapoden ein, die im Wasserbau zur Sicherung von Ufern genutzt werden und gewöhnlich in Küstengebieten anzutreffen sind. Hier säumen sie den Betriebsweg der Emscher, welche wie eine fließende Grenze das über 30 Hektar große Überflutungsbecken in zwei mächtige Lungenflügel teilt. In Material und Farbe gleichen sich die Tetrapoden dem dortigen Drosselbauwerk an. Im Hochwasserfall nimmt dieses die Funktion einer Talsperre ein, indem es die Emscher zurückstaut. Mit ihrer skulpturalen Installation Wellenbrecher bezieht sich Aladağ somit konkret auf den Ort und seine Funktion: Im Falle von Starkregenereignissen, dienen die Rückhaltebecken der Aufnahme von Hochwasserwellen und schützen damit tiefer liegende Siedlungsbereiche vor Überschwemmung.


Die Gefahr einer Überflutung der Region, auf die das Werk Wellenbrecher anspielt, ist nicht nur durch die globale Erwärmung bedingt, die sich auf der ganzen Welt in verschiedenen Folgeerscheinungen äußert. Im Ruhrgebiet ist sie geradezu doppelt präsent, denn durch Geländesenkungen infolge des Bergbaus, der die gesamte Region Jahrzehnte lang geradezu unterhöhlte, könnte das Grundwasser jederzeit bedrohlich ansteigen und ganze Landschaftsbereiche des Ruhrgebiets unter Wasser setzen. Dass dies nicht geschieht, ist den fortwährend laufenden Pumpen unter Tage zu verdanken, die das Grubenwasser fortschaffen. Somit kann Wellenbrecher als eine Art Mahnmal an die Sünden der Vergangenheit, den Raubbau an Natur und Mensch durch den Kohleabbau im Ruhrgebiet, gesehen werden.


Der Überlieferung nach bot die Arche Noah Zuflucht für Mensch und Tier und wurde zum rettenden Boot, das die verderbenbringenden Wellen der Sintflut unbeschadet überstand und das Fortbestehen der Menschheit sicherte. Der Abdruck der Arche, den die Künstlerin mit ihrer Arbeit am Hochwasserrückhaltebecken nachahmt, wird komplementiert durch reale archäologische Spuren, die im Zuge von Ausgrabungen über das gesamte Gelände verteilt gefunden wurden und die von einer jahrtausendealten Siedlungsgeschichte entlang der Emscher erzählen. Insofern birgt der Verweis auf die biblische Geschichte der Sintflut auch die Zuversicht auf den Neubeginn nach der Katastrophe.


Der weit über die Bibel hinausreichende Mythos eint die Menschen und Völker gewissermaßen in ihrer Angst vor der Bedrohung und gleichsam in der Hoffnung, im Katastrophenfall zu den Auserlesenen zu gehören, die einen Platz an Bord und damit eine Chance auf Neubeginn erhalten.


Doch wer sind die Auserwählten? Wem wird Schutz geboten? Unweigerlich entsteht damit auch die Verbindung zur aktuellen Lage und der Frage, wie viele Menschen das große Schiff Europa aufzunehmen vermag. 1942 erklärte der damalige Außenminister Eduard von Steiger, die Schweiz könne keine jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland aufnehmen, das Boot sei sprichwörtlich voll. Vielleicht ist es heute über 70 Jahre später vor dem Hintergrund des erneuten Leids und der Not der Menschen auf der Flucht, endlich Zeit, dass wir uns die Gegenfrage stellen: Sitzen wir nicht alle im selben Boot?


Im Ufer- und Küstenschutz gelingt der Einsatz von Wellenbrechern dadurch, dass die einzelnen Tetrapoden wie ineinander greifende Wirbel angeordnet werden. Nur im Verbund, durch den Zusammenhalt der einzelnen Elemente entfaltet sich ihre Schutzfunktion. Im Zusammenspiel liegt ihre Stärke. Ebenso verhält es sich im Umgang mit den Migrationswellen, die über die europäischen Mitgliedstaaten hereinbrechen: Nur wenn alle zusammenhalten und nach einer Lösung suchen, kann die Herausforderung bewältigt werden.


Mit der Arche Noah als Ausgangspunkt setzt die Künstlerin bei einer universellen, alle Religionen und Kulturen einschließenden Erzählung an, die nicht nur das Christentum für sich beansprucht. Thematisch entsteht an dieser Stelle eine Verbindung zu Border Sampling (Zeppelin Museum Friedrichshafen, 2011), einem künstlerischen Forschungsprojekt von Aladağ, das sich mit dem Konzept der internationalen Gewässer beschäftigt. An der tiefsten Stelle des Bodensees im Drei-Länder-Eck Deutschland – Österreich – Schweiz wurden hierbei von einem technischen Forscherteam Wasserproben entnommen und von der Künstlerin so Fragen nach Grenzen und Besitz des Wassers gestellt. Wer kann oder darf was für sich beanspruchen? Auch der Fundort der vermeintlichen Spuren der Arche Noah ist ein Beispiel für die Willkür von Grenzen: Das Gebiet um den Ararat wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem durch Armenier besiedelt, Armenien trägt den Berg im Zentrum seines Nationalwappens, heute gehört er zum türkischen Staatsgebiet. Seine Zuschreibung war immer wieder Grund für Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten. Die Begriffe Herkunft und Identität sind ein zentraler Aspekt in Nevin Aladağs Arbeiten. Sowohl in Border Sampling als auch in Wellenbrecher zeigt sich ihre Auffassung einer globalen Identität im Gegensatz zu territorialen oder nationalen Kategorisierungen. So stehen die Wellenbrecher auch symbolisch dafür, dass politische Wellen, besonders in Form von nationalistischen Ideologien gebrochen werden.


Seit Beginn der Umbauarbeiten entwickelt sich rund um den Standort der Wellenbrecher ein eindrucksvolles Kleinod der Artenvielfalt. Der Begriff Tetrapode bezeichnet in der Biologie die Gruppe der Landwirbeltiere wie Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere einschließlich des Menschen. Ganz im Sinne der Arche Noah, die das Fortbestehen und die Diversität der Lebewesen sichern sollte, wird vor Ort durch das Hochwasserrückhaltebecken und die sich hier in Zukunft naturnah schlängelnde Emscher ein einzigartiger Naturraum geschaffen, der schon heute vielen Tieren eine neue Heimat bietet.


Auf dem Gelände ist die horizontale Installation Wellenbrecher aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben: Von dem das Drosselbauwerk säumenden Turm eröffnet sich aus der Vogelperspektive ein idyllisches Landschaftspanorama, in dem die Tetrapoden klein und harmlos wirken. Einzeln und aus unmittelbarer Nähe betrachtet erwecken Aladağs Beton-Tetrapoden vage martialische Assoziationen: Ihre Form erinnert an Panzersperren, die im militärischen Bereich in Form von Tetrapoden aus Eisen oder Stahl als Schutz vor der Invasion des Feindes eingesetzt werden.


In ihren skulpturalen Interventionen, filmischen oder fotografischen Arbeiten setzt sich Nevin Aladağ immer wieder mit Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander. Auch die Wellenbrecher regen den Besucher zu einer neuen Wahrnehmung des Selbst im Raum an. Die massiven Ausmaße der Tetrapoden schmälern in gewisser Weise das menschliche Maß.Als Gesamtgefüge entfalten die hünenhaften Beton-Bauten vor Ort eine ganz unerwartete und außergewöhnliche Wirkung: Ihre runde und weiche Form besitzt eine untrügliche Anziehungskraft, man ist geneigt, an Ihnen Schutz zu suchen, sich an sie zu schmiegen wie an einen liebgewonnenen Riesen aus Beton.



Lisa Maria Weber und Leonie Böhmer, 2016