Freezing

Vasif Kortun

In den Fußgänger-tauglichen Städten Europas begegnet man auf Schritt und Tritt lebenden Statuen in königlicher, oft mittelalterlicher Kleidung, die für ein wenig Kleingeld, für eine Münze in den Hut, unbeweglich posieren – so als ob sie aus einer Nische in der Fassade eines historischen Gebäudes oder von einem Sockel gestiegen wären. Die Schausteller sind von Kopf bis Fuß angemalt, besitzen dabei die Eintönigkeit grellbunter Statuen. Es ist ein profanes Vorgaukeln eines disziplinierten Körpers, der glaubwürdig wirken soll. Die unbewegliche Figur erinnert an militärischen Drill, und jeder, der aus einem Land wie der Türkei stammt, erinnert sich mit Abscheu an das Zeremoniell vor dem wöchentlichen Freigang.


Die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den statuenhaften, unbeweglichen Figuren und jenen, die sich den ‘Freeze’ des zeitgenössischen Tanzes und der Breakdance-Kultur zu Eigen gemacht haben, lassen einen interessanten Vergleich zu. Sowohl die lebende Skulptur als auch der Freeze bespielen den öffentlichen Raum. Sie finden sich auf den gleichen Straßen in den Stadtzentren, beanspruchen insofern beide den Status einer öffentlichen Skulptur. Es gibt dennoch einen bedeutenden Unterschied zwischen ihnen. Das eine ist ein eher langweiliger Transfer, ein vorgetäuschtes Original einer alten Steinstatue, dessen Resultat einer kitschigen Betrachtung Vorschub leistet, während das andere eine insgesamt genauer überlegte und mit Referenzen spielende Handlung ist, beruhend auf Begriffen wie Aneignung, Übersetzung, Hybridität, Individualisierung des Stils und unverfälschter Urbanität. Schließlich ist es auch ein Nebenprodukt der Breakdance-Kultur und der Hip-Hop-Explosion. Tatsächlich ist diese Aktion des Stillstands, die vor dreißig Jahren erfunden wurde, der größte Exportschlager aus den von Kriminalität gezeichneten Gemeinschaften der Wohnblocks in der New Yorker South Bronx.


Der Freeze ist eine Pose, die aus dem stets wachsenden Inventar einer Subkultur stammt, die sich fast alle Spielarten zwischen Yoga und Körperkultur einverleibt. Der Körper des Tänzers wird von Kopf bis Fuß auf eine Linie gebracht und Verrenkungen unterworfen, in denen sich die traditionellen europäischen Hierarchien der menschlichen Figur auflösen. Nevin Aladağ hält die Freezes in Fotografien fest, erstellt eine sympathische Dokumentation dieser kurzweiligen, unerlaubten Monumente. Wie mit allen ephemeren Aktionen oder Performances funktioniert die Dokumentation gleichsam als Monument der Aktion. Vor allem aber handelt es sich bei den von Aladağ aufgezeichneten Freezes um Rekonstruktionen. Die Tänzer stehen an ungleichmäßigen Orten, in Zonen, wo öffentliche Plätze und Stadtviertel durch den Verkehr der Stadt unterbrochen und voneinander getrennt werden. Ihre Posen werden durch diese energiereichen Schnittpunkte intensiviert, und leiten somit unsere Aufmerksamkeit auf Nicht-Zonen, die wir sonst kaum beachten.


Die Fotografien wurden mit langen Belichtungszeiten aufgenommen, um die Bewegungen des Verkehrs ringsum festzuhalten. Indem sie dieses Element der zeitlichen Distanzierung benutzt, gibt Aladağ die Bewegung wieder, die die autistisch anmutende Aktion, eine nicht alltägliche Geste, umfließt. Obwohl der Freeze überall stattfinden könnte, suggerieren die Fotos eine ungewöhnliche Analyse, eine überraschend positive Interpretation des Begriffs des öffentlichen Raums, indem sie die Fußgängerzonen zugunsten von Nicht-Zonen wie einer Verkehrsinsel ausblenden.


Es ist bemerkenswert, dass dieses Element der BBoy-(Breakdance-)Sprache vornehmlich auf eine von Männern dominierte Kultur verweist. Wieso möchte also eine junge Künstlerin, die in einem Milieu arbeitet, das sich seit mehr als dreißig Jahren mit Gender-Fragen auseinandersetzt, bloße Betrachterin bleiben? Wieso möchte sie eine transgeografische Jugendkultur für Underdogs glamourös darstellen? Eine Subkultur, die wiederholt von den Freizeitindustrien wie Musik, Mode und Lifestyle vereinnahmt wurde, die mit jener Jugendkultur in Verbindung gebracht werden wollen, die sich ihrerseits die Subkultur wieder aneignete und so eine endlose Schleife der Wiederaneignung und des Vertrauens in Trends in Gang setzte.


Aladağ bestärkt ihre Betrachterrolle und setzt dabei auf Hybridität und Humor, was auch in früheren Arbeiten wie Familie Tezcan deutlich wird, einem Video über die Nachkommen einer Gastarbeiter- Familie, die über einen reichen Schatz an kulturellen Ausdrücken verfügt, von denen manche Anleihen, andere wiederum Erfindungen und Neuschöpfungen sind. Die Familie Tezcan bezeichnet den dritten Raum, den man zwischen Sprache und kulturellem Ausdruck findet.


Vater Tezcan ist von Beruf Breakdancer und Tanzlehrer. Die urbane Kultur afro-amerikanischer Prägung, die Aktivitäten wie das Breakdancing hervorbrachte, ist wie viele geografisch entwurzelte Jugendkulturen weltweit eine Plattform für diepostkoloniale Jugend der türkischen Immigrantenfamilien. Diese Energie hat eine ungleich bedeutendere türkische Rapszene in Berlin als in der Türkei selbst hervor gebracht. Doch obwohl diese hybride Kultur der Minderheit eine Form der Selbstermächtigung darstellt und neue Arten der Identitätsproduktion begünstigt, darf man die politischen Motive ihrer Aneignung in Frage stellen, denn sie bergen nicht selten die reale Gefahr des Essentialismus in sich.


Zurück zur Famile Tezcan, die man in erster Hinsicht als eine Art Musikvideo bezeichnen kann: In nur wenigen Minuten wird der Betrachter Stimmen und Tönen in gleich vier Sprachen ausgesetzt: Aus der Vergangenheit der Eltern hören wir Türkisch und Spuren von Arabisch, aufgrund ihrer jetzigen Situation unterhalten sie sich auf Deutsch, und ihre Lieblingssprache – die unumgängliche Konsequenz der zeitgenössischen amerikanischen Massenkultur und ihrer globalen Verbreitung – ist Englisch. Durch diesen faszinierenden Umgang erscheinen die Tezcans als liebenswerte, nette und fröhliche Familie, die in völligem Einklang mit den Kulturen lebt, die ihren Alltag bilden.


Letzten Sommer bevölkerten Aladağs Breakdancer die nicht nutzbaren Bereiche des Proje4L Museums für zeitgenössische Kunst in Istanbul. In ähnlicher Weise hing eine andere Arbeit, ein leerer Anzug, kopfüber auf der Außenwand eines Gebäudes, während ein Teppich in Zungenform aus einem Fenster hinaus auf die Straße hinunter baumelte, und einen obskuren aber dennoch humorvollen Kontext schaffte. Ich denke, dass diese Art Humor auch in Freeze deutlich wird, und wenn wir vom stammesgebundenen Konkurrenzdenken des Genres absehen, sind sie einfach nur witzig und anachronistisch-autistisch in ihrem Selbstverständnis. Die Darsteller jedenfalls scheinen ebenfalls Spaß an der Verwandlung ihrer Körper zu Geschenken an die Passanten zu haben.


Vasif Kortun, 2003