Gudrun Ankele interviewt Nevin Aladağ zu Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ

Gudrun Ankele

Ein Schauspieler sitzt auf einer Couch und spricht. Wir sehen, wie sich sein Mund bewegt und die erste Frage formuliert – wir hören eine weibliche Stimme. Wir hören eine Frage, danach eine Antwort, die ebenfalls von der gleichen Stimme gesprochen wird und vom Darsteller lippensynchron artikuliert wird. Die Antwort erzählt von einer Familie, von Kindern und einer Frau. Wer spricht hier? Welches Subjekt wird hinter der Antwort sichtbar und wer stellt die Fragen?

Fragen und Antworten werden von der gleichen weiblichen Stimme gesprochen und vom gleichen männlichen Darsteller verkörpert. In der Abfolge der Fragen und Antworten wird nach einiger Zeit erkennbar, dass auch die antwortende Person nicht eine einzelne ist, sondern verschiedene – eine weitere Irritation der Performance Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ, die als Experiment in Sachen Selbsterfindung verstanden werden kann.

Von der Brüchigkeit oder Zerbrochenheit individueller Existenz ausgehend, verwebt die Performance Versatzstücke von Narrationen verschiedener Personen, denen die Künstlerin in der Entwicklungsphase der Arbeit jeweils eine Frage gestellt hat. Die Künstlerin formuliert die Fragen ausgehend von ihren eigenen Interessen an den ausgewählten Personen und stimmt sie teilweise auf die Interviewten ab, teilweise versucht sie Fragen, die sie gerade persönlich beschäftigen, als Ausgangspunkt für Interviewfragen zu nehmen. Die Fragen werden zu Fragen, die die Künstlerin an sich selbst richtet. Als Motivation nennt Aladağ “Neugier und auch das Zulassen von anderen Meinungen. Wenn ich also andere Antworten als die meinen zulasse, dann ist es nicht nur ein "sich bedienen" an den Antworten anderer, sonder ein "sich öffnen" für die Meinung anderer. Ich versetze mich also auch in ihre Lage. Im Prinzip ist es ein Austausch oder eine temporäre Symbiose.”

Nicht nur die Fragen der Künstlerin, auch die Antworten entpuppen sich in dem Setting der Performance als Suche nach sich selbst. Die Antwort als Sprechakt wird dadurch in ihrer Funktion als Aussage oder Information problematisiert. Im Lauf der Performance wird deutlich, dass die Antworten der eingelandenen Interviewten weniger Auskunft über eine Person oder gar Ausdruck von Individualität oder einem eigenen Selbst sind - vielmehr zeigen sie reflektierende Suchbewegungen, spielerisches Experimentieren, Lust an der Erfindung oder Inszenierung einer Identität. Damit wird der Prozess des Konstruierens von Standpunkten, Meinungen, Statements deutlich, die dann zu Versatzstücken eines kaleidoskopischen Subjekts werden.

Der Sprechakt des Antwortens wird im Lauf der Performance in seinem performativen, wirklichkeitserzeugenden Potential erkennbar: Er verweist nicht auf ein ihm zugrunde liegendes Subjekt, sondern bringt es überhaupt erst hervor und inszeniert es, indem er das sprechende Subjekt auf der Bühne des Dialogs auftreten lässt. Die Möglichkeit zu souveräner Subjektivität wird durch die Inszenierung dieses Dialogs zwischen Fragender und Antwortenden wird als eines Zwiegesprächs mit sich selbst kompliziert.

Dabei wird nicht nur die Grenze zwischen der Frage als Suche nach Identität und der Antwort als Aussage von Identität in den Blick genommen, sondern auch die Frage nach der Funktion des Anderen in der Subjektkonstitution. Die eigene Existenz kann nur über die Erfahrung eines Anderen, über die Erfahrung der Grenze und Differenz verstehbar werden. Wie die Etablierung einer sozialen, nationalen oder geschlechtsspezifischen Gruppe ohne die Wir/Sie-Unterscheidung nicht denkbar ist, so kann auch das Ich nur in Abgrenzung zu einem Anderen konstituiert werden.

Im Interview als Genre wird dieser Subjektkonstitution nachgespürt und auch Raum gegeben. Die Sichtbarkeit des Subjekts ist schon in der Etymologie des Worts angelegt, das ein “viewing” des oder der Befragten beinhaltet und ermöglichen soll: "to see each other, visit each other briefly, have a glimpse of." Die lange Tradition von Interviews umfasst auch experimentelle Varianten wie etwa die Fragebögen (ohne Antworten), die Max Frisch in seinen Tagebüchern 1966-1971 entwickelte, oder das manische Interviewprojekt von Hans Ulrich Obrist, der die Kunst des Interviews zu seiner kuratorisch-künstlerischen Medium erklärt hat. Inspiriert von Gesprächen wie etwa dem zwischen Pierre Cabanne und Marcel Duchamp begann Obrist während seiner Studienzeit Interviews zu führen, die er mittlerweile als endless conversation bezeichnet. In diesen Interviews wird nicht nur die Tradition der Konversation fortgeführt, sondern auch das Potential des Interviews als Medium für Selbstentwürfe und -erfindungen auf unterschiedlichste Weise eingesetzt – es bietet sowohl dem Interviewer als auch den Künstlerinnen und Künstlern eine Möglichkeit, als Figuren in der Inszenierung “Kunstwelt” in Erscheinung zu treten.

In Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ wird dieses konstituierende Potenzial auf die eigene Person bezogen. Die Grenze zwischen Fragesteller und Befragtem, auf denen das herkömmliche Verständnis des Interviews als Genre beruht, wird auf mehreren Ebenen durchkreuzt und durchlässig. Weder das Subjekt des Sprechens, noch das leibliche Subjekt des Darstellers und auch nicht die verschiedenen Textsubjekte sind für das Publikum während der Performance auf einen Ursprung zurückzuführen. Die Frage “Wer spricht?” mag im Fall der Performance die Frage sein, die sich das Publikum in seiner ersten Irritation stellt, wird jedoch im Laufe der Aufführung ad absurdum geführt. Nevin Aladağ stellt sich selbst Fragen und damit auch ihr eigenes Vermögen in Frage, die gesuchten Antworten zu geben. So schickt sie ihre Fragen in der Vorbereitung der Performance an Freunde und Freundinnen, an Bekannte aus der Kunstwelt, an Verwandte, mit der Bitte um Antworten. Diese Antworten formen das Skript der Performance Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ ist auf der Suche nach Fragmenten möglicher Identitäten.

Die vielen unterschiedlichen “views” des interviews, die die Künstlerin wie sie sagt symbiotisch aufnimmt, sind potentiell widersprüchlich, unvereinbar, dissent und stellen eine einheitlich gedachte Subjektivität grundlegend in Frage. Die Personen, die sie am liebsten interviewen würde, sind ihre Vorfahren – so Aladağ in einem Gespräch zu der Arbeit. Dieser Hinweis macht einen weiteren Aspekt der Performance auf: Er verbindet die Suche nach mit einer Vergangenheit, die abwesend scheint, und die doch als past-present (Homi Bhabha) Einfluss auf unsere Existenz nimmt. Es braucht keinen Verweis auf kulturelle Kontexte, um die Performance von Aladağ als einen Versuch zu verstehen, eine neue, andere Art von Identität zu versuchen, der neue Verknüpfungen von Geschichte, Erinnerung, Vergessen, Subjektivität und Differenz als künstlerisches Experiment inszeniert, ohne sie auf ein originäres Verständnis von Identität zurückzuführen. Auch in ihrer Performance Hochparterre (2009), entstanden für das Festival “Beyond Belonging” im Berliner Ballhaus Naunystrasse arbeitet Aladağ mit der Methode, gesammelte Texte – in diesem Fall Interviewpassagen von AnwohnerInnen der Naunystrasse in Kreuzberg – zu einem Text zu collagieren und lippensynchron von einer Darstellerin aufführen zu lassen. Die unterschiedlichen Antworten der befragten Leute ergeben auch in dieser Performance eine Untersuchung der Möglichkeit von Grenzziehungen und Identitäten und erzeugen eine neue, irritierende Verbindung von widersprüchlichen, dissonanten Stimmen, ohne die Widersprüchlichkeiten zu einem harmonisierten, nostalgischen Bild zu vereinen.


The borderline work of culture demands an encounter with ‘newness’ that is not part of the continuum of past and present. It creates a sense of the new as an insurgent act of cultural translation. Such art does not merely recall the past as social cause or aesthetic precedent; it renews the past, refiguring it as a contingent ‘in-between’ space, that innovates and inter­rupts the performance of the present. The ‘past-present’ becomes a part of the necessity, not the nostalgia, of living.

Das gewaltsame, schmerzhafte Moment dieser Einverleibung bzw. dieses Aufbrechens von Subjektivität und kultureller Identität scheint durch die Fragilität beider Performances durch und zeigt sich auch in obigem Zitat der Künstlerin, wenn sie von dem Zulassen anderer Meinungen im Rahmen von Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ spricht. Dieses Moment des Zulassens, des sich “selbst” Zurücknehmens, Aufgebens, Ergebens als transformatorischen Moment zu verstehen, ist die Herausforderung, die Aladağ in ihrer Performance experimentell inszeniert und die auf ein grundlegend anderes Verständnis von Zusammenleben verweisen können.

Gudrun Ankele, 2010