Nevin Aladağ und die B-Boys

Justin Hoffmann

Die deutsch-türkische Künstlerin Nevin Aladağ interessiert sich in besonderem Maße für die HipHop-Kultur und den ‚Breakdance’. Die Akteure, so genannte B-Boys, stehen im Mittelpunkt von gleich mehreren ihrer Arbeiten. Als das Spezifische dieser Tanzform gilt die Thematisierung von Technologie und nicht nur in den Varianten ‚Robot Dance’ oder ‚Electric Boogie’. Die Nähe zur Maschine wird gesucht. So heißt eine der beliebtesten Figuren ‚Breakdance Helicopter’. Als Kulminationspunkt des Breakdance gilt jedoch der ‚Freeze’. Er ist der Break des Breakdance und besteht aus einem plötzlichen Innehalten, einem Einfrieren eines Bewegungsablaufes, vergleichbar dem Fotografieren, bei dem Abläufe in einem Bild fixiert werden. Der Freeze will das Gegenteil vieler anderen Tanzformen (Techno, Samba etc.) sein, die auf eine kontinuierliche Bewegung zur Musik abzielen.


Den Freeze mit der Fotokamera aufzunehmen, ist somit einerseits naheliegend, ist ein Einfrieren hoch zwei, aber andererseits auch paradox, denn eine fotografierte Pose eines anderen Tanzes könnte ähnlich aussehen. Nicht jedoch im Fall von Nevin Aladağs Fotos: Für ihre Langzeitbelichtungen im öffentlichen Raum wählte die Künstlerin eine Kulisse mit sich bewegenden Elementen. So wird durch die Unschärfe anderer Bildteile das lange Stillstehen der B-Boys erkennbar. Die Länge der Belichtungszeit kann etwas von der Dauer dieser starren Haltungen vermitteln. Die Breakdancer posieren auf Aladağs Fotos zu zweit oder allein, etwa auf Fußgängerwegen vor Münchner Häuserfassaden. Die Passanten hinter ihnen aber auch Tauben erscheinen darauf verwischt. Noch absurder wirken die Freezes zwischen den von zahlreichen Autos befahrenen Straßen in der Nähe des Haus der Kunst. In ihrer Starre wirken die Personen wie Statuen, Denkmäler im Außenraum. Aber auch an die ‚Living Sculptures’ von Gilbert & George fühlt man sich erinnert. Das Einfrieren von Bewegung ist aber nur ein Aspekt des Freeze, der andere das Annehmen einer fremden Identität. Die Tänzer schlüpfen mit ihren Haltungen in die Rolle von Tieren, Superhelden, Geschäftsleuten oder frei erfundenen Fantasiegestalten. Der Überraschungsmoment dabei ist wichtig. Freezes bilden eine Herausforderung für die nachfolgenden Tänzer, die oft aufeinander reagieren.


Vor der Fotoserie dieser Tanzform hatte die Künstlerin schon im Jahr 2000 die Bewegungen von Breakdancern – Drehungen, Sprünge und extravagante Posen – mit der Fotokamera festgehalten und damit ihre eigenen Freezes, das heißt eingefrorenen ‚Moves’, hergestellt. Sie ließ die Mitglieder der Gruppe Step to Diz einzeln, zu zweit und als ganze Formation ein nahezu akrobatisches Programm in ungewohntem Ambiente, in einem Zimmer des Münchner Hotels Mariandl, aufführen. Für eine neue Arbeit isolierte Aladağ die Personen der dort entstanden Aufnahmen und verteilte die Figuren nach kompositorischen Aspekten auf der Wand. Die außergewöhnlichen Gesten werden nun nach ihren ästhetisch- dramaturgischen Überlegungen positioniert. Durch das Lösen der Tänzer aus dem Umfeld erhalten die Posen einen stark zeichenhaften Charakter und besondere Prägnanz. Sie demonstrieren das expressive Potenzial des menschlichen Körpers.


Die früheste Arbeit mit einem Breakdancer stellte Nevin Aladağ im Jahr 1999 her, als sie einen Tänzer zu seinem eigenen Schatten agieren ließ. Das Video mit dem doppeldeutigen Titel Der Mann, der über seinen Schatten springen wollte zeigt einen mit einen Scheinwerfer erzeugten Ring am Fußboden. Dieser markiert aber nicht nur eine Tanzfläche, sondern wirft auch einen prägnanten Schlagschatten von jedem, der in seinen Bereich eintritt. Einmal erscheint dieser Schatten als eine flächige Verdoppelung des Protagonisten, ein anderes Mal als Bestandteil eines Hybrids, der aus der Verbindung von Mensch und Schlagschatten entsteht. Aber auch in anderen Videoarbeiten spielt der Breakdance eine wichtige Rolle.


In der Videoinstallation Match (2000) werden HipHopper aus verschiedenen Beobachterpositionen gefilmt. Ihre Aktionen sind auf mehreren Projektionsflächen und in unterschiedlicher medialer Brechung (etwa auf dem Display einer Digicam) zu sehen. In dem Videofilm Familie Tezcan portraitiert die Künstlerin im Jahr 2001 eine in Deutschland lebende türkischstämmige Familie, die sich durch eine immense Beweglichkeit und Musikalität auszeichnet. Die fünf Familienmitglieder singen ihre Lieblingssongs in verschiedenen Sprachen und beherrschen alle mehr oder weniger Breakdance. Die Arbeit zeigt, welchen Stellenwert Popmusik heute für das Alltagsleben migrantischer Gemeinschaften besitzt. Einen Rückgriff auf die Kulturgeschichte der Türkei machte Nevin Aladağ mit ihrer Installation Tanzende Derwische von 1998. Ihre kinetischen Skulpturen mit rotierenden weißen Stoffen, die sie unter anderem im Münchner Techno-Club Ultraschall präsentierte, erinnern an die wilden, ekstatischen Tänze dieser mythischen Bruderschaft.


Für Friedrich Nietzsche stellt der Tanz eine Metapher des Denkens dar. In Also sprach Zarathustra war es der Tanz, der sich dem großen Feind, dem „Geist der Schwere“, widersetzt. Dem Fliegen nah lässt er einen Körper entstehen, der das ihm Aufgezwungene, sein Gewicht vergisst. Mit ihm befreit er sich von jeglichem Ernst und jeder Konvention. Den Tanz mit dem Denken gleichzusetzen, liegt in Nietzsches Überzeugung begründet, Denken sei Intensivierung, eine Intensivierung seiner selbst. Wenn Nietzsche von Tanz spricht, meint er nicht, das exakte Befolgen einer vorhandenen Choreografie, sondern das Gegenteil: eine fest an sich selbst gebundene Beweglichkeit, ein Denken, das in die Höhe strebt. Das Besondere am Breakdance ist die Identität von Choreograph und Tänzer. Durch seine Skills, Drehungen und Schritte erfindet der Tänzer seine eigene, ganz individuelle Bewegungsform. Er entwirft ein Körperbild und produziert eine Gestenvielfalt, die bildende Künstler nicht nur zu Recht interessiert, sondern, wie man an den Arbeiten von Nevin Aladağ sieht, auch zur visuellen und konzeptuellen Weiterführung lohnt.


Justin Hoffmann, 2004