Odeion. Unerschlossenes, politisches Potential

Sabine B. Vogel, Kunstforum International, 05/2017

Migration ist überhaupt ein deutliches Schwerpunktthema dieser 14. documenta. Im Odeion genannten Konservatorium läuft Peter Friedls Film „Report“: Er beauftragte 25 in Athen lebende Migranten, im Nationaltheater jeweils einzelne Passagen aus Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ zu rezitieren. 30 Stunden Filmmaterial kamen zusammen, 30 Minuten verwendete er. Die Vorträge entsprechen der Textstruktur, sind allerdings jeweils in der Muttersprache der multikulturellen Akteure gesprochen. Die Geschichte handelt von dem Affen Rotpeter, der von seinem Anpassungsprozess an die Menschen berichtet – die Parallelen zur Situation der Akteure sind unübersehbar. Nebenan in dem kalten Beton- Auditorium läuft die faszinierende Installation „The Way Earthly Things Are Going“ des nigerianischen Klangkünstlers Emeka Ogboh: Aus Lautsprechern klingen gesungene Geschichten über Finanzkrisen seit 1929, dazu laufen auf einem friesartigen LED-Display Aktienkurse, grün jene im Plus, rot jene im Minus. Im Innenhof stapelt Daniel Knorr Müll zu einem riesigen Berg auf, den er in den Straßen Athens sammelt. Einzelne Teile werden zusammengepresst, zwischen leere Buchseiten gelegt und als insgesamt 1100 Künstlerbücher für je 80,- Euro verkauft. Damit finanziert Knorr seinen Kasseler Beitrag, wo jeden Tag zehn Generatoren in einem Turm am Museum Fridericianum weißen Rauch aufsteigen lassen. Weniger Städte- als Völker-verbindend legt der norwegische Architekt und Künstler Joar Nango, der zur indigenen Volksgruppe der Sami (früher Lappen genannt) gehört, sein „mobiles Theater“ im Innenhof an. Zelte sind mit Fellen ausgelegt, dazwischen liegt ein großes E auf dem Boden – der Anfangsbuchstabe der stillgelegten Firma Eskimo. Es sei eine Rückaneignung dieser abfälligen Bezeichnung für die Indigenen des Nordens, erklärt er. Jetzt dient das E als Bühne, etwa für den jungen Rapper aus Grönland, der davon singt, dass sein Volk so oft von Demokratie redet, aber keine Handlungen folgen. 47 Künstler und Künstlergruppen sind für die Musikschule aufgelistet, darunter die farbigen, abstrakten Collagen der 1922 in Wien geborenen Elisabeth Wild, die Zeit 1939 vor den Nazis nach Argentinien emigrierte, später wegen Juan Perón nach Basel und zuletzt nach Guatemala zog. Die Grand Dame der pakistanischen Kunst Lala Rukh zeigt in einem Animationsfilm, wie sie die klassische Rupak-Rhythmusstruktur in ihre zarten Zeichnungen übersetzt, und Nevin hat im Untergeschoß eine neue Musikschule aufgebaut: Sie verwandelte gemeinsam mit Instrumentenbauern griechische Flechtstühle und Retro-Möbel in Klangkörper. Ein Tisch ist ein persisches Zupfinstrument, ein Sessel eine Gitarre, die bespielt werden.


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Artikel, erschienen im Kunstforum International, Band 246, Mai – Juni 2017, unter diesem link.