Marsch

Ruth Kissling

(for german version please see below)


For the back wall of Kunsthalle Basel, the artist has conceived the installation Marsch. The wall serves as an outsize sheet of music that shows the opening bars of the Rondo alla Turca by Wolfgang Amadeus Mozart. Also known as the Turkish March, the Rondo “in the Turkish style” was composed by Mozart in 1783/84 as the last movement of his Piano Sonata No. 11 in A major (KV 331). Its musical motifs imitate “Ottoman” percussion instruments as employed in Janissary music (a term denoting the music of the Ottoman military). Nevin Aladağ represents the heads of the notes by means of cast-iron hemispheres that are based on an original cannonball preserved in the Historical Museum in Basel. Their volumes vary, giving the impression that they have been fired at the wall with varying degrees of force. Aladağ thereby calls to mind the true purpose of military music: its primary function is to dictate the choreography of troop movements, both on the battlefield and in peacetime parades. The time signature determines the marching speed and formation of the soldiers. The psychological role of military music is equally relevant: it is intended to reinforce esprit de corps and at the same time intimidate the opponent.


The title Marsch (March) further reinforces the military reference implicit in the musical motif from Mozart’s Rondo. At the colloquial level, the title can be read as an imperative – “March!” – and hence, depending on interpretation, as a playful or stern command to start moving. The viewer looking at the back wall is requested to walk the length of the notation, which marks a temporal and spatial progression. Thus the artist not only inscribes the music visually into the public space, but also gives it a material presence that is experienced through motion. The word “march”, in its meaning of an organized procession of people as a form of protest or for military purposes, is found in a very similar form in many European languages, pointing to a common origin: as well as Marsch (Ger.), it can be recognized in marche (Fr.), marcia (It.), marcha (Sp.) and marş (Turk.). In etymological terms “march” goes back to the Frankish markōn, “to mark” or “mark out” (with footprints). Here a military motif combines with a semantic one.


The notation of music captures, in abstract graphic signs, something that becomes what it is only through being performed. This performance is thereby largely regulated by additional signs in the notation: bar lines, the stems of the notes, accents, tempo… In Marsch, not even the fluctuating volumes of the hemispheres provide clues to the musical interpretation of the piece, since their variations bear no relation to the values of the notes. Aladağ frees Mozart’s Turkish March from its rigorous structure and renounces all indications as to how it should be played. The interpretation of this march thus navigates between strategy and chance – a situation that is comparable with the dynamics of a military conflict.


Aladağ’s Marsch thus fuses making a mark, as originally signified by the word “march”, with the history of a musical motif that was extracted from its functional, military context and, overstepping cultural boundaries, was sublimated and depoliticized by the high art of another nation. The clear sculptural decisions made by Nevin Aladağ render this complexity visible.


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Nevin Aladağ macht Gegenstände des täglichen Gebrauchs ebenso wie Situationen und Handlungen des Alltags zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten und beschäftigt sich mit deren kulturellen und politischen Kodierungen, ihrer Herkunft und Geschichte. Indem Aladağ alltägliche Gegenstände aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang löst und dysfunktional macht, ändert sie ihre Lesart und verweist auf die vielfältigen Aspekte ihrer Funktion und Nutzung. Neben die ästhetischen und funktionalen Gründe, die die Entscheidungen über Form und Material eines Gegenstandes bestimmen, treten so die ideologischen, geschlechtsspezifischen, politischen oder kulturellen Motive, die ihre Entstehung begleiten. Aladag interessiert sich auch für die nicht-materiellen Momenten einer Alltagskultur: sie initiiert und dokumentiert kulturelle Handlungen wie Tänze, Spiele und Musik, die sie eingewoben in den Alltag einer Gesellschaft zeigt. Der öffentliche Raum wird dabei zum Beobachtungsfeld und zum Handlungsort dieser Arbeiten, in denen sich das Private mit dem  Sozialen und Politischen überschneidet.


Für die Rückwand der Kunsthalle Basel konzipiert Nevin Aladağ die Installation Marsch. Die Wand dient als übergrosses Notenblatt, das die ersten Takte des „Rondo alla Turca“ von Wolfgang Amadeus Mozart zeigt. Mozart komponierte das Allegretto „im türkischen Stil“ 1783/84 als letzten Satz der Sonate Nr. 11 A-Dur (KV 331). Darin kommen musikalische Motive vor, die „türkische“ Perkussionsinstrumente imitieren, wie sie in der als „Janitscharenmusik“ bezeichneten osmanischen Militärmusik verwendet wurden. Diese Musik und ihre Instrumente waren durch die Kriegszüge der osmanischen Armee in Europa, besonders in Österreich bekannt geworden. Das „Rondo alla Turca“ stellt eines der bekanntesten musikalischen Beispiele des „Orientalismus“ in der westeuropäischen klassischen Musik dar, das einem allgemeinen Interesse an der als „exotisch“ wahrgenommenen Kultur des Osmanischen Reiches entspringt. Ähnlich wie andere traditionell und regional verankerte Tanz- oder Volksmusiken bildete Militärmusik ein motivisches und thematisches Repertoire der Musik der europäischen Hochkultur.


Nevin Aladağ stellt die Notenköpfe an der Rückwand durch aus Eisen gegossene Kugelsegmente dar, die eine originale Kanonenkugel aus dem 19. Jahrhundert aus der Sammlung des Historischen Museum Basel als Vorlage haben. Die variierenden Volumina der Segmente vermitteln den Eindruck, dass sie mit unterschiedlicher Wucht auf die Wand geschossen wurden. Damit ruft Aladağ die eigentliche Funktion von Militärmusik in Erinnerung: in erster Linie dient sie dazu, die Choreographie von Truppenbewegungen vorzugeben, sowohl in kriegerischen Schlachten als auch bei friedlichen Paraden. Die Taktangabe bestimmt Geschwindigkeit und Bewegungsformation der Soldaten. Ebenso relevant ist die psychologische Rolle der Militärmusik: sie soll das Gemeinschaftsgefühl stärken und gleichzeitig den Gegner einschüchtern.


Der Titel Marsch verstärkt den militärischen Bezug des musikalischen Motivs aus dem „Rondo“ weiter. Umgangssprachlich kann der Titel als Imperativ gelesen werden und je nach Auslegung eine spielerische oder strenge Aufforderung sein, sich in Bewegung zu setzen. Der Betrachter der Rückwand ist zum Abschreiten der Notation aufgefordert, die einen zeitlichen und räumlichen Verlauf markiert. So schreibt die Künstlerin die Musik nicht nur visuell in den öffentlichen Raum ein, sondern gibt ihr auch eine materielle Präsenz, die sich durch die Bewegung entlang der Wand erschliesst. Verstanden als „geordneter Aufzug von Menschen zu Demonstrationen oder militärischen Zwecken“, lässt das Wort „Marsch“ in vielen europäischen Sprachen die gleiche Herkunft erkennen: marche (frz.), marcia (it.), marcha (span.), march (engl.) und marş (trk.). Das Wort geht etymologisch zurück auf das altfränkische Wort markōn: „ein Zeichen setzen, eine Spur hinterlassen“ und verbindet so ein Bewegungsmotiv mit einem sprachlichen Bild.


Die Notation von Musik hält in abstrakten grafischen Zeichen etwas fest, das erst durch die Aufführung zu dem wird, was es ist. Die Aufführung ist dabei weitgehend von dem bestimmt, was als zusätzliche Zeichen in der Notation vorgegeben ist: Taktstriche, Notenhälse, Betonungen, Tempo, ... Aladağ löst den Marsch aus seiner strengen Struktur und verzichtet auf diese Hinweise zur Aufführungsweise. Nicht einmal das Volumen der Kugelsegmente, das immer wieder variiert, gibt Aufschluss über die musikalische Interpretation des Stückes, denn die Variationen entsprechen nicht den Notenwerten. Damit bewegt sich die Interpretation dieses Marsches zwischen Strategie und Zufall, eine Situation, die vergleichbar ist mit den Dynamiken einer militärischen Auseinandersetzung.


In Aladağs Marsch kommt die ursprüngliche Bedeutung des Zeichensetzens mit der Geschichte eines musikalischen Motives zusammen, das aus seinem ursprünglichen funktionalen Zusammenhang, der Militärmusik, gelöst wurde und über kulturelle Grenzen hinweg von der Hochkultur eines anderen Landes sublimiert und entpolitisiert wurde. Die bildhauerischen Entscheidungen, die Nevin Aladağ trifft, führen diese Komplexität vor Augen.



Ruth Kissling, 2014