Pop of Minority

Shaheen Merali

Die Arbeit Twentieth Century (1997), die Maurizio Cattelan 1999 im Londoner Tate Modern zeigte, sorgte für viel öffentliches Aufsehen. Twentieth Century bestand aus einem ausgestopften Pferd, das über dem Ausstellungsraum schwebte, aufgehängt in einem Zaumzeug, was den Eindruck der jähen Unterbrechung seiner Dynamik verstärkte. Die schlaff herunter hängenden Beine waren unbeweglich, für immer in Richtung Boden zeigend. Wenngleich in einem anderen Register, macht auch Nevin Aladağ Arbeit sich bestimmte Merkmale von Handlungen und Attitüden zu Eigen, sowohl um besondere Interpretationen zu provozieren als auch zu bestärken: Sichtweisen, die unsere üblichen Bezüge zur Realität und zum Phänomen der Geschwindigkeit teils einvernehmen, teils verkomplizieren. Wenn man wie Aladağ diese vermeintlichen Wahrheiten aneinander reiht und mit allgemein angenommenen Gewissheiten in Bezug auf Begriffe wie Zugehörigkeit und Anerkennung ergänzt, erzielt man mithin sehr eigentümliche Resultate.


Solche Begriffe wie Zugehörigkeit, Anerkennung und Gewissheit werden etwa in heimwärts (2002) auf die Probe gestellt, einer Arbeit, die zum Ziel hatte, heimkehrende Tauben zu beobachten und zu filmen, Vögel also, die darauf abgerichtet wurden, ‘nach Hause’ zu finden. Diese Eigenschaft entstammt natürlich dem Konstrukt der Taubenzüchtung – einem Hobby, das ein absurd anmutendes Zartgefühl mit der Tendenz, die Natur zu beherrschen, vereint. Doch wie Aladağ feststellen musste, schlägt letzten Endes jeder Versuch der Kontrolle fehl. Demnach können alle Systeme der Aneignung äußerst tückische Resultate hervorbringen, weil die Steuerungsmechanismen nur einen geringen systematischen Einfluss auf die Auswirkungen haben. Aladağs scharfsinnige Beobachtungen wurden in Form einer Aktion nachvollziehbar, bei der losgelassene, ‘manuell’ kontrollierte Tauben im unkontrollierten Gebiet in der Luft eine folgenreiche Begegnung mit einem Schwarm frei fliegender Tauben hatten. Das Resultat ihrer Begegnung mit einer anderen Gruppe war ein Gruppen-/Heimatwechsel–hier wurde der geografische Ortswechsel Wirklichkeit, eine Folge der unbeirrbaren Konsequenz des Lebens. So bildet sich eine neue oder durch eine unvorhersehbare Zusammenführung möglicherweise veränderte Gruppe, in einem fortwährenden Wechselspiel von Flucht, Verlust und Neugruppierung. Im metaphorischen Sinne suggeriert heimwärts, dass nicht alle Schicksale gleich bleiben müssen, und Zielsetzungen verhandelbar sind. Dass die Aktion vor dem Münchener Rathaus stattfand, erweiterte ihren Interpretationsrahmen um Referenzen an das Zusammenleben und künftige Einflüsse, die von den Erfahrungen mit einer neuen Art der Staatsbürgerschaft und neuen Gruppierungen geprägt sein werden.


Das Schicksalsspiel des Ortswechsels – die Lotterie der Migration – ist seinerseits eine dem größten Teil der Welt mehr und mehr vertraute Lebensweise. So ist Aladağ der Meinung, dass ihr jüngster Wechsel von München nach Berlin auf zufällige Begegnungen zurückzuführen sei, sprich: auf die Möglichkeiten, die sogar gradlinigen Lebensläufen gegeben sind. In ihrer Arbeit kehren die Begriffe der Flucht und des Fliegens häufig wieder. Sie spielt mit den Erwartungen, indem sie kalkulierte Vorurteile aufbricht; so etwa in deutsch. türk. kurd., einer Serie von T-Shirts mit den Begriffen ‘türkisch’,‘kurdisch’ und ‘deutsch’ in der Blindenschrift der jeweiligen Sprache, die auf ihre Lebenserfahrungen als Künstlerin und Frau dreifacher Abstammung anspielen. Sicher gibt es Berührungspunkte in der Geschichte und den Kriegen der drei Völkergruppen, aber auch diese bleiben unausgesprochen; vielmehr werden sie polemisch in kurz abgehandelten, metaphorischen Begegnungen in Aladağs Arbeiten verortet.


In ihrer Videoinstallation Familie Tezcan (2001) filmt sie mehrere Generationen einer türkischen Familie beim Ausführen von Breakdance-Bewegungen. Mutter, Vater und drei Kinder, alle im amerikanischen Sport-Outfit, tanzen fröhlich, und erproben dabei ihre athletischen Fähigkeiten. Darüber hinaus entdecken sie ihre eigene kulturelle Familiengeschichte in Form von Erzählungen, die mit den Erfahrungen aller Ausländer verknüpft sind. Eine erste Interpretation wäre die einer Amerikanisierung ihrer deutschen und türkischen Kulturen, aber die Arbeit stellt auch den offensichtlichen Stil-Mix in den Vordergrund, eine Re-Interpretation von grundlegenden Quellen in hybriden Formulierungen. Wie die Literaturtheoretikerin und Kulturkritikerin Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem hervorragenden Essay Criticism, Feminism, and the Institution schreibt, ist “dieses Formulieren [...] auch ein Texten, ein Wortschöpfen, ein künstlerischer Akt, ein Umformen in ein verständliches Objekt.”


Im Fall der Familie Tezcan handelt es sich sowohl um ein Tun als auch ein Verstehen, um eine wahre Kulturproduktion: Das Leben als ausgelassener Ausdruck türkischer und amerikanischer marginaler Identitäten, der die Erwartungen aufhebt, neu erfindet, umdeutet, Vorurteile auflöst und dank seiner Großzügigkeit dort erfolgreich ist, wo andere nicht nur versagen, sondern sich Veränderungen nicht einmal vorstellen können. Die Familie Tezcan dreht sich, wirbelt umher, steht still, wackelt, kickt und singt als freudige Einheit, die ähnlich wie Tauben in der neuen Heimat zufällig eine extravagante Sprache gefunden hat, um die Ketten unserer lebensbildenden Gemeinschaften und ihrer Paradigmen einer monokulturellen Tradition zu sprengen. Aladağ zeigt, dass das zeitweilige Aussetzen als ein Akt kultureller Herausforderung funktioniert, indem es solange nach dem Imaginären strebt, bis dieses sowohl das Objekt als auch das Ziel wird.


Aladağs Der Mann, der über seinen Schatten springen wollte (1999) ist eine Videoinstallation, in der ein einzelner Darsteller elegant versucht, seinem eigenen Schatten, den ein einfacher Lichtkegel auf den Boden wirft, zu entkommen. Manchmal gelingt es ihm, indem er in extremer Körperhaltung auf einem Arm balanciert, in scheinbarer Schwerelosigkeit und mit der Geschmeidigkeit eines Tieres. Aladağ beschreibt diese Arbeit als eine Aufzeichnung der Fähigkeiten von Breakdancern, deren nicht-verbale Sprache sie so beeindruckt; das Ritual, die Zielstrebigkeit, die Geschwindigkeit und die künstlerische Absicht bilden hier den Bezugspunkt ihrer Betrachtungen.


Worauf möchte also Aladağ mit ihrer leicht voyeuristischen und sublimierten Sicht auf diese Gruppe junger Männer hinweisen? Die Freezes [2] als Bemühungen, die Erdanziehungskraft auszuhebeln, hat sie in einer neuen Werkserie gegen den Fluss der Passanten aufgenommen und somit beeindruckende, teils an Monumente erinnernde Bilder geschaffen. Aladağ weist auf die “feine Linie dazwischen” hin, diesen Grenzpunkt wo “die Dinge unscharf werden”: eine Wirklichkeit, die zum Tagtraum wird, eine Tausendstelsekunde, in der die Bewegung stillsteht. Erneut zieht die Künstlerin sich zurück, um zum Begriff der Kontrolle über die Realität zurückzukehren, indem sie die kalkulierten und fortwährenden Darstellungsweisen durchbricht, die in der heutigen Bildkultur allgegenwärtig sind. Aladağs beeindruckender Vorstoß in die Ungewissheit bringt ein Gefühl von Zeitund Schwerelosigkeit hervor, das seinen Ursprung beim ‘Straßenkampf’ gegen die Erdanziehungskraft hat.


Freeze (2003) und Springer (2000/2003) sind Aktionen, die wortwörtliche Interpretationen von vorneherein ausschließen. Diese Fotografien von frei schwebenden Figuren, Abziehbilder einer verflachten Wirklichkeit, zeigen sonderbare Handlungen und kleine Ensembles, die einen Augenblick intensiver Meditation bezeichnen, als Gegenstück zu (und gleichzeitig das Resultat von) Geschwindigkeit und Erdanziehungskraft.


Der Betrachter muss seine Wahrnehmung, ja sogar das Zustandekommen der Fotografien hinterfragen. Diese Serie stellt zahlreiche Fragen auf unterschiedlichen Ebenen – von den weltlichen Betrachtungen über das formale Konstrukt der Fotografie, einschließlich der Geschichte der Trickfotografie, der Bildmanipulation und der Zeitlupe, bis hin zu philosophischen Fragestellungen zu unserem Vermögen und unserem Verständnis dessen, woran wir glauben und zu dessen wissenschaftlicher Rationalisierung. Die beiden Serien setzen den Körper ins Zentrum der Begrifflichkeiten von konstruierter Wirklichkeit und zweifeln unsere Macht über die Erdkräfte an. Aladağs Arbeit verhilft so zur metaphorischen Infragestellung der Mechanismen des Wissens als Überwachungsinstrument unserer Wahrnehmung und Kontrollinstanz gesellschaftlicher Tendenzen.


Ständig hinterfragt Aladağ die geläufigen Vorstellungen hinsichtlich bestimmter Fähigkeiten, die unseren Körper umgeben, und die in letzter Instanz von Zugehörigkeitskriterien wie Rasse, Jugend, Urbanität und Gender definiert werden. Dagegen schlägt sie eine Sichtweise vor, die sich von klar definierten Kategorien hin zu einer viel abstrakteren Kodierung bewegt; einer Kodierung von Kategorien, die von einem neuen Vertrauen in das Vermischen von Traditionen zeugt, die multiple Bezugspunkte hat, und somit neue Dimensionen erschließt, um die einst strikt getrennten, von problematischen Ontologien definierten Kategorien aufzuzeigen. Durch die geschärfte Sensibilität, die ihre Arbeiten hervorrufen, indem sie uns ein Anfassen und Sehen ermöglichen, werden wir in die Lage versetzt, so Aladağ, “ein zweites Mal hin zu schauen.”




Shaheen Merali, 2003


Dieser Text beruht auf einem Gespräch mit der Künstlerin, das am 13.10.2003 im Künstlerhaus Bethanien stattfand.



Anmerkungen:

[1] Gayatri Chakravorty Spivak, The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, Hrg. Sarah Harasym, Routledge, New York & London, 1990.


[2] Der Arbeitstitel Freeze beschreibt das Stillstehen, das ‘Einfrieren’ des Tänzers in der Bewegung, das Aladağ hier fotografisch festhält. [A.d.Ü.]